2,5 Sterne
Update 2024-09-20 Marquez und die Annihilation
Meine Lektüre von [b:Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie|6560455|Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie|Niklas Luhmann|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1336296757l/6560455.SY75.jpg|327899] ermöglicht mir gerade, meine Eindrücke des Buches zu präzisieren.
Marquez strebt die völlige Auslöschung und Zerstörung von Sinn, Identität und Ordnung an. Und zwar auf allen Ebenen. Das Nichts, im philosophischen, physischen, spirituellen und literarischen Sinne.
Folgendes Zitat von Luhmann löste meinen Gedanken aus:
Für diesen Prozeß der laufenden Selbstbestimmung von Sinn formiert sich die Differenz von Sinn und Welt als Differenz von Ordnung und Störung, von Information und Rauschen. Beides ist, beides bleibt erforderlich. Die Einheit der Differenz ist und bleibt Grundlage der Operation.
Da kann nicht genug betont werden. Eine Präferenz für Sinn gegen Welt, für Ordnung gegen Störung, für Information gegen Rauschen.
Der Sinnprozess lebt von Störungen, nährt sich durch Unordnung, lässt sich durch Rauschen tragen und erfordert für alle technisch präzisierten, schematisierten Operationen ein ausgeschlossenes Drittes.
Weiterhin ist für Luhmann sie Selbstreferenz, das sich selbst Beobachten, eines Systems unabdingbar.
Sinnsysteme sind in ständiger Selbstanpassung und Neuformierung.
Ist ein System seiner Selbstreflexivität beraubt, wie in 100 Jahre Einsamkeit, verliert es seine Funktionstüchtigkeit.
Dadurch, dass Marquez, seinen Figuren keine Selbstreflexivität gestattet, erkennt das System überhaupt keine Möglichkeitshorizonte mehr, da keine Anpassung mehr mit der Differenz von Ordnung und Störung stattfindet. Es kann Unterscheidungen wie Sinn von Unsinn nicht produktiv machen. Dh. es findet ein Kommunikationsabbruch mit der Umwelt statt.
Die Anschlussfähigkeit fehlt. Ich kann mich nicht mehr auf sinnvolle Weise auf meine Umwelt beziehen.
Wir erleben in dem Buch eine strukturelle und kognitive Isolation.
Aus der Perspektive, könnte man sagen: tolles Experiment vom Marquez.
ABER
Ich komme in meiner Ursprungsrezi auf Bateman von BEE zu sprechen. Das passt dann wieder ganz gut in der Argumentation warum das Buch "American Psycho" ein gutes Buch ist und gewinnbringend mit Fatalismus bzw. Nihilismus spielt.
Marquez zieht die Zerstörung des Sinns auch in den literarischen Bereich hinein, in seine Sprache und den Stil. Welchen Raum bietet es denn für Reflexionsmöglichkeiten der Selbstbestimmung? Tja, ich habe nur die Flucht in den Himmel, als magischen Realismus gefunden. Ich gehe mal davon aus, dass hier niemand das rumgebumse im Schlamm dazu zählt.
Ich benötige eine literarische Vermittlung unter Einbezug der Differenz. Wenn da aber keine kohärenten Bezüge vorhanden sind, die ganze Ordnung zerfällt und mir keine neuen Strukturen an die Hand gegeben werden, wird die Luft dünn. Ich bleibe als Leser ebenfalls in der Reflexionslosigkeit gefangen. Hab ja nix womit ich Differenzen aufheben könnte. Keine Vermittlung, reine Negation. Wir stecken fest.
100 Jahre Einsamkeit verliert seine Funktion als Medium der Selbstbeobachtung. Das Buch, wie der Zerfall Macondos, reduziert sich auf ein isoliertes Ereignis ohne größeren Sinnzusammenhang. Kraftlos und selbst nur noch Rauschen.
unveränderte Ursprungsrezi
Das war mein 3. Marquez und auch hier, wie in den beiden anderen Büchern zuvor, reflektiert er das Ringen der lateinamerikanischen Gesellschaft um traditionelle Werte, Konventionen und dem Wunsch nach Freiheit und Veränderung bzw. der feindlichen Übermacht der Moderne.
Ich stoße mich an den Mitteln und der Art und Weise, wie er seine Figuren setzt, agieren lässt bzw. sie determiniert.
Wir finden hier einen historischen kollektiv Fatalismus vor. Dh. Das Individuum, das Ich, als reflexives Bewusstsein wird dem Kollektiv untergeordnet. Er verschleiert durch die Wiederholungszwänge und deterministische Struktur, des in sich geschlossenen Ortes Macondo, die dynamischen und prozesshaften Aspekte des Seins. Die Figuren sind nicht mehr als Archetypen und stehen übergeordnet für die kollektive kulturelle Geschichte.
Das mag nun Geschmackssache sein. Ein Buch, das auf Fatalismus ausgelegt ist muss meines Erachtens extrem konsequent umgesetzt werden und Details enthalten, die einen gewissen Spannungs-Erregungsfaktor aufrechterhalten.
Marquez setzt auf die Erregung des Genitalbereiches. „Hundert 100 Geilheit“ wäre ebenso passend gewesen. „Die Liebe geht duchs Bett“ heißt an einer Stelle des Buches. Triebhaft rammelnd suhlt die Menschheit sich im Schlamm, freudig wartend auf das Ende - werdet alt und man soll euch vergessen, sprach der Gott, der in diesem Buch abtauchte. Sauber! Will ich nicht lesen.
Die Gottperspektive (huch da ist er ja doch) des Erzählers ermöglicht natürlich den umspannenden Blick über die Jahrzehnte, distanziert sich jedoch schon fast in einer schadenfrohen Beobachterrolle.
Der individuelle Kampf gegen das Schicksal geht in den größeren, übergeordneten Rahmen über.
Das macht die Plotebene für mich dann nicht sonderlich spannend.
Fatalismus aus der Ichperspektive, einer reflexiven Person, in deren wahnhafte Psyche wir eintauchen können und mit der hoffnungslos gegen den Fatalismus, mit allen Mitteln gekämpft wird, ist dann ehr mein Ding. Hallo Bateman!
Daraus schließe ich: ich mag das Allgemeine von Marquez nicht. Ich will es direkt und psychologisch serviert bekommen.
Es gibt einige Szenen, die ich sehr gelungen finde. Die Schlaflosigkeit. Das Vergessen von Begriffen und Bedeutungen und der Frage, was ist wichtig? Was muss man erinnern? Und damit Verbunden Mystifikationen und Tröstungspraktiken.
An diesem Buch nervt mich wie auch bei Kafka, Ergebenheit und Hilflosigkeit. Marquez spiegelt dies an der triebhaftigkeit der Männer, die völlig verzweifelt sind und sich umbringen müssen, wenn das schöne Weibchen den Schoß versagt. Und überhaupt ihren Penis nicht im Griff haben bzw. ihn am liebsten von morgens bis abends im Griff der Dame hätten. Soll aber ganz viel um die LIEBE gehen. Echt jetzt Herr Reich-Ranicki?! Wobei, wär nen geiler Abgang des Buches gewesen. Alles vernichtet und Gott taucht mit nem Blumenkörbchen auf und hüpft mit der schönen Remedios im Arm Blümchen streuend über das Totenfeld.
Diese elende schicksalhafte Fremdbestimmung. Ja doch! Größerer Rahmen, Lateinamerika als fremdbestimmt zwischen den Mächten. Aber diese Kapitulation vor dem „grausamen Belagerungszustandes des Wartens und der Niederlage des Alters“… Schnarch!
Die Sinnlosigkeit weitet Marquez im Gegensatz zu Kafka noch auf politische Ambitionen aus- die Unfähig echte Veränderungen herbei zuführen. Aureliano später dann den Rückzug aus der politischen Revolution zu den Goldfischen antreten zu lassen, ist eine nette subversive Methode gegen das verschissene vergängliche Leben anzugehen. Aber auch wieder nicht, weil wird ja am Ende eh alles im Gulli entsorgt.
Der magische Realismus. Ja den mag ich sehr in diesem Buch.
Ich mag auch die Sprache. Nur dienen beide Elemente dem Fatalismus.
Da hab ich schon das Magische, das Ketten der symbolischen Ordnung sprengt und mir Spielräume jenseits aller Naturwissenschaften und Rationalität liefert und? Die schöne Remedios, die die Welt klar sieht, die Vernunft! Die ein Störfaktor in diesem triebhaften Sumpf darstellt, wird mit dem Bettlaken flatternd, schwebend in die Lüfte entsorgt oder gerettet, wie man es sehen mag.
Da der Fokus aber nicht bei ihr verweilt, sondern wir weiter in der zyklischen Orgie und karnevalesken Maskenparade vor uns hin siechen, hat das magische Element so irgendwie nix gewonnen. Ach so! Gewinnen ist ja auch nicht. Vernichtung und Vergessen.
Joa, hat mich dann zu wenig berauscht, beglückt. Ehr mit einer lähmenden Fassungslosigkeit belegt.