AnnaCarina hat Lord Jim von Joseph Conrad besprochen
Review of 'Lord Jim' on 'Goodreads'
5 Sterne
Conrad schreibt mit Lord Jim ein komplexes und forderndes Monstrum der Synthese aus "psychologischem Realismus" und "philosophischer Romantik"
Die Figur Jims repräsentiert die Romantik. Er wird mehrfach im Buch als romantisch bezeichnet.
Zu Beginn des Buches träumt er von heroischen Taten, bis er auf der Patna daran scheitert – dem harten Realismus. Die Romantisierung Jims, übernimmt im Folgenden Marlow, der als Erzählinstanz auftritt.
Er stellt Die poetische Lebensfom, Jim, in den Mittelpunkt. Ist wie besessen von ihm.
„Ich wurde gezwungen, einen Blick auf das stillschweigende Übereinkommen zu tun, das hinter aller Wahrheit steckt, und auf die innere Lauterkeit des Falschen. Er wandte sich an alle Seiten zugleich– an die Seite, die ständig dem Tageslicht zugewendet ist, wie an jene andere in uns, die, gleich der zweiten Mondhälfte, in ewigem Dunkel liegt und nur manchmal am Rande von einem fahlen, unheimlichen Licht gestreift wird. Er beherrschte mich.
Er löst Jim in seiner formalen Konzeption auf. Der Charakter wirkt wie eine Improvisation. Conrad legt dies völlig verwirrend durch die Struktur des Textes an. Perspektiven wechseln hin und her. Man weiß oft nicht wer redet. Es kommt schnell zu Verwechslungen. Alles schwimmt und schaukelt, wie auf einem Schiff vor sich hin. Situationen sind uneindeutig, unklar. Erst später enthüllen sich die Versatzstücke der Erzählung.
Hier zwei Zitate zur Definition der Romantik. Na wenn das nicht wie die Faust aufs Auge passt:
“ Steigerung des schöpferischen Ichs ins Universale, Vereinigung von Geist und Natur. Die poetische Lebensform ist ist wichtiger als die Form des Dichtwerks, das stets nur verzehrende Sehnsucht und ewiges Streben sein kann. Daher fehlt vielen Werken in der Romentik die strenge formale Konzeption; sie sind nach oben hin offene Formen → Fragmente, Improvisationen.“ [ F. Schlegels 116. Athenaeum- Fragment zur Romantik]
„Romantik eine Haltung, die eine Perspektive der Idealisierung und Vermittlung einnimmt, die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt und sich selbst auf eine dynamische, prinzipiell unabschließbare Beziehung zur Unendlichkeit verpflichtet. In philosophischer Hinsicht markiert Romantik vor allem einen Kontrast zu allen Spielarten des empirisch-materialistischen Rationalismus; auf literaturwissenschaftlichem Feld grenzt sie sich von realistischen und klassizistischen Tendenzen ab.“ [Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft]
Der Idealismus Hegels ist zudem sehr präsent in dem Werk.
Das ganze Dilemma beginnt mit dem Sprung – Jim’s Sprung von der Patna.
Dem Verlust seiner Ehre, seines Stolzes und seines Selbstbildes als mutiger und prinzipientreuer Seemann.
Was folgt ist die Suche nach dem eigenen Wert, der Integrität an den eigenen Idealen festzuhalten, egal wie gleichgültig sich der Weltenlauf gegenüber den eigenen Träumen, dem Wunsch nach Erlösung und Wiedergutmachung gebärdet.
Der psychologische Realismus zertrümmert die Romantik:
“Es war, als wären wir rasch in ein geräumiges Grab eingemauert worden. Kein Zusammenhang mit irgend etwas auf Erden. Keine Meinung, die irgendwie in Betracht kam. Es war alles belanglos.“
“Die Welt benötigt ihn nicht, niemand ist gut genug, er ist nicht gut genug“
Jim erlangt seine Zuflucht auf Patusan.
Marlow sinniert folgend darüber: „Zuflucht um Preis der Gefahr. Land das nie existiert habe. Niemand mischt sich ein. Vereinzelung als folge seiner Macht.
Patusan repräsentiert eine Art utopischen Raum, in dem Jim die Möglichkeit erhält, sein Ideal von Heldentum und Ehre zu leben.
Jim kann sich neu erfinden. Die Handlungen in Patusan bleiben möglicherweise ohne Bedeutung für die Welt außerhalb dieses abgeschiedenen Ortes.
Und hier kommt die Psychologie Marlow's voll zum tragen. Diese Einsicht ist für ihn wichtig, nicht für Jim. Jim versucht nur in den Grenzen seines Idealismus zu agieren. Bleibt auf Patusan. Weigert sich zu gehen.
Lord Jim ist gleichzeit das Bespielen der Urangst, als Erzählen gegen das Vergessen (werden).
Marlows "Wahn", sich in Jim's Geschichte hineinzusteigern, könnte als Spiegel seiner eigenen Unsicherheiten, seines Bedürfnisses nach Zugehörigkeit und seines Wunsches, einen dauerhaften Sinn in einer unbeständigen Welt zu finden, gesehen werden.
Dieser Spiegel bricht sich in dieser Unterhaltung mit Stein Bahn:
“Das war der Weg. Dem Traum folgen, und nochmals dem Traum folgen– und so– ewig– usque ad finem...
Insofern hatte er recht. Das war der Weg, ohne Zweifel. Trotzdem lag die große Ebene, auf der die Menschen zwischen Gräbern und Fallstricken umherirren, sehr öde da unter dem linden Schleier des Dämmerlichts, verdunkelt in ihrem Mittelpunkt und von einem grellen Rande umsäumt, als ob ein Flammenabgrund sie umkreiste. In diesem Augenblick war es schwer, an Jims Dasein zu glauben– der aus einem ländlichen Pfarrhaus kam, im menschlichen Getriebe wie hinter Staubwolken untergetaucht, von den über ihm zusammenschlagenden Forderungen des Lebens und des Todes in einer kalten Welt erdrückt schien– doch seine unvergängliche Wirklichkeit drängte sich mir mit überzeugender, mit unwiderstehlicher Macht auf!
Nu ja, und am Ende mischt doch wer ein, egal wie vergessen man lebt und kackt einem nen fetten Haufen auf den Tisch. Der Weltenlauf schaut gleichgültig zu und das Boot sinkt endgültig.
So geschwätzig einige Passagen wirken mögen. Sie verbrennen in der sengenden Hitze dieses existentiellen Meisterwerkes - des Mensch seins.