AnnaCarina hat Die Wellen. Roman. ( Gesammelte Werke, Prosa VIII). von Virginia Woolf besprochen
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5 Sterne
Eine tiefe philosophische und psychoanalytische Auseinandersetzung der Aufruhr des menschlichen Individuums, zu sich selbst zu finden und deren Unmöglichkeit, solange Mensch sich selbst an die Ketten starrer Ordnungssysteme hängt – sich entkoppelt von Natur betrachtet.
Wie ist es möglich, den Geist ständig in Bewegung zu halten, sich in der Realität neu auszurichten, die Beziehungen zu anderen Menschen als Spiegel zur Entwicklung eines dynamischen Selbstbewusstseins zu entwickeln?
Woolf weist den Weg, indem sie einen stilistischen Fluss der Gedanken und des Bewusstseins wählt, die mit der Natur, der physischen Welt verflochten sind. Ideen und Begriffe sind nicht von der objektiven Wirklichkeit getrennt. Sie stehen in einem ständigen prozesshaften Wechselspiel und verändern sich gegenseitig.
Das folgende Zitat illustriert dies m.E. sehr gut:
"Das Gewicht der Welt ruht auf unseren Schultern; in unseren Augen entsteht die Vision der Welt; sobald wir blinzeln oder beiseitesehen oder uns zurückwenden, um nachzublättern, was Plato gesagt hat, oder uns an Napoleon und seine Eroberungen zu erinnern, fügen wir der Welt eine Verletzung durch Verzerrung zu"
Öffnung für das Buch bedeutet:
• Schmerz - dem dualistischen, gesellschaftlich starren Ordnungssystem, entgegen treten zu können
• Schmerz – dem natürlichen Impuls sich verorten zu müssen, eine Identität innerhalb enger Grenzen ausbilden zu wollen, zu widerstehen
• Schmerz – anzuerkennen, der Mensch ist faul im Geist, träge, gleichgültig und die Welt gleichgültig ihm gegenüber
Jetzt rühren wir die 3 Aspekte zusammen und erhalten die Essenz des Buches.
Woolf bespielt die paradoxe, widersprüchliche Natur des Menschen, frei sein zu wollen und sich dieser Freiheit, durch seine selbst gesetzten starren Normen, Werte, Regeln und wie wir Sprache einsetzen, zu berauben, bis wir uns selbst in der Trägheit und Gleichgültig domestiziert haben und die Ketten nicht mehr benötigen.
„Wie schnell verstreicht das Leben von Januar bis Dezember! Wir alle werden weitergefegt von der Sturzflut der Dinge, die so vertraut geworden sind, daß sie keinen Schatten werfen; wir ziehen keine Vergleiche; denken kaum je ›ich‹ oder ›du‹; und in diesem Zustand der Unbewußtheit erlangen wir das Höchstmaß an Reibungsfreiheit...“
Woolf beschreibt einen Tag in der Natur – es ist noch dunkel, gleich dämmert es - bis zum Sonnenuntergang und Einbruch der Dunkelheit.
Darin sind die 6 Freunde, deren Gedanken in einem Wirbel der Emotionen und Beobachtungen, in Zyklen des Lebens eingewoben.
Zwei entscheidende Aussagen wiederholen sich in bestimmten Lebenszyklen.
Die Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter wird von der Aussage:
„Das angekettete Tier stampft auf dem Strand“ durchzogen.
Das Erwachsenenalter wird von der sich endlos wiederholenden Indifferenz (Gleichgültigkeit) geprägt.
Das angekettete Tier – die emotionale Unruhe, die Frustration der Unterdrückung, der Freiheitsdrang, weicht im Alter der Gleichgültigkeit, der Selbstaufgabe.
Jeder Lebenszyklus trägt seinen eigenen Schwerpunkt.
Kindheit:
Ängste, Ausbildung der sozialen Beziehungen/Freundschaften, die Verbundenheit mit der Natur, sich in ihr geborgen zu fühlen, sie im Spiel, der Phantasie als Schutz vor menschlicher Zivilisation zu verstehen.
"Als Kinder lebten wir ständig wie angeschlagene Gongs / jetzt andere Ordnung/ ewiger Sinn"
Der Widerstreit, andere Menschen als Spiegel zur Entwicklung des Selbst zu benötigen und dennoch zu sich, aus sich selbst heraus zu finden:
"Ich brauche Augen, die mich sehen, um diese Krausen und Falbeln zu produzieren. Um ich selbst zu sein (das halte ich fest), brauche ich das Strahlen in den Augen anderer, und deshalb kann ich nicht ganz sicher sein, was mein Selbst ist. Die Authentischen, wie Louis, wie Rhoda, existieren am vollständigsten in der Abgeschiedenheit."
Jugend:
Ordnungen, Zwänge, Verhalten, „Du musst, Du sollst“, Regeln, Normen
In dieser Phase bespielt sie sehr schön die Verschiedenheit von Individuen und ihren Bedürfnissen anhand der Kirche.
Einer der Freunde denkt dies: „wir legen unsere Besonderheiten ab, indem wir hier eintreten“...keine Freiheit, kalt… Kritik an der Institution Kirche.
Der andere Freund denkst das: Kirche als Schutz, jemand der nur Teil eines Rades sein will, nichts grobes, feste Bahnen, wenig unvorhergesehenes, er mag keine Überraschungen.
Hier nochmals der Widerstreit soziales Umfeld vs. Ich:
„Doch mein Herz sehnt sich nach euch. Ich würde mit euch durch die Feuer des Todes gehen. Doch bin ich am glücklichsten allein.“
Die Sonne steht tief, fortgeschrittenes Erwachsenenalter:
"Dabei atmen wir kaum«, sagte Neville, »ausgelaugt, wie wir sind. Wir befinden uns in dem passiven und erschöpften Zustand, in dem wir uns nur noch wünschen, uns wieder mit dem Körper unserer Mutter zu verbinden, von dem wir abgeschnitten wurden. Alles andere ist widerwärtig, erzwungen und ermüdend. Jinnys gelbes Halstuch ist mottenfarben in diesem Licht; Susans Augen sind erloschen. Man kann uns kaum vom Fluß unterscheiden. Das Ende einer Zigarette ist der einzige hervorstechende Punkt unter uns. Und Traurigkeit färbt unsere Zufriedenheit, daß wir euch verlassen, das Gewebe zerrissen haben; dem Wunsch gefolgt sind, allein einen bittereren, einen schwärzeren Saft auszupressen, der aber auch süß war. Doch jetzt sind wir verausgabt."
Der Mensch hat nicht gebrannt für etwas. Er hat keine Energien freigesetzt. Er ist ausgebrannt. Auslöschung statt Erneuerung.
"Nach unserer Feuersbrunst, sagte Jinny, ist nichts mehr übrig, das man in Medaillons aufbewahren könnte."
Na, wer hört den freudschen Todestrieb anklingeln?
Die Nacht:
„Wir sind abgeschnitten, wir sind gefallen. Wir sind Teil jenes fühllosen Universums geworden, das schläft, wenn wir am lebendigsten sind, und rot brennt, wenn wir im Schlaf liegen. Wir haben unsere Stellung aufgegeben und liegen nun flach, verwelkt, und wie bald vergessen!“
Im Alter wird fast ausschließlich nur noch erinnert - an die Kindheit, wie gelebt oder nicht gelebt wurde. Die virtuellen Schatten alternativer Möglichkeiten rütteln am Gemüt.
"so erscheint mir mein Wesen, jetzt, da das Begehren es nicht länger hinaus- und fortlockt; jetzt, da die Neugier es nicht länger mit tausend Farben tönt. Es liegt tief unten, ohne Gezeiten, immun, jetzt, da er tot ist, der Mann, den ich ›Bernard‹ nannte..“
Das Wellenmotiv
Die Wellen werden in einigen Auseinandersetzungen mit dem Buch folgendermaßen interpretiert:
als Symbol für die monotone Wiederkehr des ewig Gleichen und das Vergehen der Zeit.
Nope!
Hier ein paar Zitate aus dem Buch:
"Wellen die fächerförmig über den Strand jagten" -
"der Wind kam auf. Die Wellen trommelten ans Ufer, wie Krieger mit Turbanen, auf die grasenden Herden losstürmen, auf die weißen Schafe" -
" Die Wellen stauten sich, krümmten ihre Rücken und zerbarsten. Sie schossen um die die Felsen und die Gischt sprang hoch auf"
So komme ich auf die 3 Punkte des Schmerzes zurück. Woolf denkt dynamisch. Die Natur ist keine monotone Abfolge von etwas. Das ist die Illusion unserer konstruierten Wahrnehmung der Realität. Diese Erklärung ist das Problem, das Dilemma unserer Beschränktheit.
Keine Monotonie, kein Feststecken.
Dynamik und Turbulenzen Freunde! Wer fließt und gleitet mit? Wer geht mit seinem Felsbrocken der starren Ordnung unter?