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Review of 'Theorie des Erzählens.' on 'Goodreads'

4 Sterne

4,5 Sterne

Ein Sachbuch das überhaupt nicht kompliziert mit Fachbegriffen um sich wirft, sondern sehr anschaulich, an vielen Beispielen die verschiedenen Erzählsituationen beleuchtet.

Ein paar Aspekte die für mich sehr produktiv und interessant waren:

Die Mittelbarkeit

"Die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittelbarkeit ist demnach das auszeichnende Merkmal der personalen ES" (S16)

"Mitteilbarkeit ist der wichtigste Ansatzpunkt für die Durchformung eines Stoffes durch den Autor einer erzählenden Dichtung"
(S17)


Sie erhöht die Literarizität, wie man an
Don Quijote , Tristam Shandy, Madame Bovary oder Ulysses nachvollziehen kann.

Ungewöhnlich gestaltete Mittelbarkeit erhöht die Komplexität des Sinngefüges einer Erzählung- Bedeutungsschichten und Facetten mehren sich.
Hierzu gehört die Deviation (Abweichung von der Norm, Verfremdungseffekte), die von
W. Burroughs, John Barth, Thomas Pynchon und Kurt Vonnegut jr. genutzt wird.

Ein spezieller Verfremdungseffekt ist im "Point of View" zu finden. Der "Noueveau Roman" spielt z.B. damit wie Robbe Grillet in "la Jalousie" -> "Camera Eye Technik":

"Dient bei Robbe-Grillet die „Camera Eye"-Technik in erster Linie der Verdinglichung und Entpersönlichung der Wahrnehmung und Darstellung der Wirklichkeit, so setzt S. Beckett sie hauptsächlich dazu ein, die Persönlichkeit des Bewußtseinsträgers, den wir an der Stelle, wo die Kamera aufnimmt, annehmen müssen, auf einige wenige Funktionen des Existierens zu reduzieren. Eine dieser Funktionen scheint die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Kontinuität und der kausalen Zusammenhänge im Ablauf eines Vorganges zu sein. Das Bild des „Camera Eye" ist daher auch für die späten Prosastücke Becketts, publiziert unter dem Titel Residua,5° nicht mehr recht anwendbar. Die Kamera dieser Prosastücke filmt nämlich nicht mehr kontinuierlich, sondern scheint eher kaleidoskopartig Aufnahme an Aufnahme zu reihen. Die syntaktischen Beziehungen zwischen den Satzteilen sind daher größtenteils ausgespart. Die Radikalität der Reduktion, die bereits in der Trilogie Molloy. Malone Dies. The Unnamable von Roman zu Roman zugenommen hat, eskaliert in den späten Fragmenten von „Enough" über „Imagination Dead Imagine" zu „Ping" sprunghaft.
In der anscheinend sinnlosen Wortsequenz „Ping", die nur durch das ständig wiederkehrende Lautsignal ,Ping' interpungiert wird, sind alle drei Grundoppositionen unseres Systems unbestimmt gelassen: Ich-oder Er-Bezug? Innen- oder Außenperspektive? Erzählerfigur oder Reflektorfigur? Die totale Reduktion des Erzählvorganges entspricht der ebenso totalen Reduktion der Persönlichkeit des Bewußtseinsträgers, auf den diese Wortsequenz eventuell zurückzuführen ist."


Vom Point of View unterscheidet er zwischen Perspektivismus und Aperspektivismus.
Der viktorianische Roman, wie zb. Middlemarch, wird hauptsächlich aperspektivisch geschrieben: Schilderung Innenraum, Landschaft bekommen wenig Aufmerksamkeit, Werturteile , Abgrenzung der Haltung von Figuren zum Erzähler bleibt unscharf .
Wir haben also eine perspektivische Trennung der Ansichten des Erzählers und der Charaktere.

Flaubert war einer der Ersten der die Perspektivierung mittels einer personalen ES eingeführt hat.
Fragen der Lebenspraxis wurden dadurch radikalisiert oder neu aufgeworfen.

Stanzel wandert gegen Ende des Buches zu seinem Typenkreis über, der ein Formenkontinuum darstellt. Er veranschaulicht wie die graduellen Übergänge insbesondere der Erzählperspektive - Auktorial, Ich- ES und personales-ES über fließende Zwischenformen in den Werken umgesetzt werden und welche Effekte diese erzielen.

Besonders spannend und neu für mich die erlebte Rede in der Ich-Erzählsituation in "der Steppenwolf" von Hermann Hesse.

"Weiters stellt Cohn fest, daß sich „die erlebte Rede im Ich-Roman nur dort [findet], wo der Schwerpunkt ganz auf dem erlebenden Ich liegt, wo demnach das erzählende Ich unbetont, ja ungestaltet ist [...]. Diese Empathie mit dem vergangenen Ich-Stadium scheint uns eine der Vorbedingungen für die erlebte Rede im Ich-Roman zu sein" (308f.).
Damit ist auch bereits eine der Ursachen aufgedeckt, warum erlebte Rede als Form der Gedankendarstellung - die erlebte Rede als Redewiedergabe ist zunächst auszuklammern - im Ich-Roman verhältnismäßig selten erscheint. Wie bereits gezeigt wurde, schiebt sich gerade in den häufigsten Formen der Ich-Erzählung, nämlich in der Quasi-autobiographischen, das erzählende Ich oft so stark in den Vordergrund, daß die für das Erscheinen von erlebter Rede vorauszusetzende Empathie mit dem erlebenden Ich nicht mehr recht gelingt: Das erzählende Ich mit seinem Jetzt und Hier im Erzählakt bestimmt die Orientierung des Lesers.

Durch die Form der ER als Form der Gedankendarstellung in einer Ich-ES wird also der Subjektivität der Erfahrung des erlebenden Ich ein Ausdrucksspielraum geschaffen, in dem es sich, wenn auch oft nur vorübergehend, unbeeinträchtigt durch die andere „Instanz" seiner Person, das erzählende Ich, entfalten kann. In einer Ich-ES fördert daher ER viel häufiger die Empathie des Lesers mit dem erlebenden Ich als sie eine Distanzierung oder Ironisierung des erzählenden Ich und damit des Lesers vom erzählenden Ich auslöst. Dagegen bewirkt ER in auktorialer (nicht personaler!) ES sehr oft eine Distanzierung des Lesers von der dargestellten Romanfigur, weil diese Distanz in der Doppelperspektive von Erzähler und Romanfigur bereits angelegt ist.
ER ist daher auch als Mittel zur Sympathiesteuerung des Lesers anzusehen, doch ist ihre Wirkung in diesem Sinne, wie gezeigt wurde, nicht zuletzt auch davon abhängig, in welcher ES sie erscheint."


Ich fand seine Art des Erklärens und dynamischen Verwebens, für einen Einsteiger in die Literaturtheorie, absolut geeignet.
Insgesamt bin ich auf 3 Stellen gestoßen, die mich kurz verloren haben, in denen er viel auf andere theoretische Sachbuchautoren Verweist und von Differenzen in den Theorien spricht, die mit einigem Fachvokabular unterlegt sind, zu denen mir schlicht die Kenntnis fehlt. Er fängt das aber sehr schnell wieder ein, ohne dass ich am Ende der Lektüre das Gefühl hatte, etwas Wichtiges verpasst zu haben.