AnnaCarina hat Meine Freunde. von Emmanuel Bove besprochen
Review of 'Meine Freunde.' on 'Goodreads'
4 Sterne
Emmanuel Bove schreibt mit „Meine Freunde“ einen psychologischen Episodenroman über Victor Baton, einem einsamen Invaliden, nach dem ersten Weltkrieg in Frankreich.
Müsste ich das Buch mit einem Wort beschreiben, dann dieses: Unangenehm.
Victor ist einsam. Er hat keine Freunde, keine Vertrauten. Er lebt sozial isoliert in einem heruntergekommen Dachzimmerchen.
„Ich liebe die Bahnhöfe, weil sie Tag und Nacht belebt sind. Wenn ich nicht schlafen kann, fühle ich mich dort weniger allein.“
Ein Mensch, von vielen Unsicherheiten und Ängsten geprägt. Er ist zögerlich, zurückhaltend, traut sich oft nicht. Sich lächerlich zu machen, ängstigt ihn sehr.
Eine schrecklich sensible Persönlichkeit.
„Ich mag die Frauen in Pantoffeln: die Beine wirken nicht so unnahbar.“
Furchtbar empathisch trotten wir mit ihm, im Versuch Freunde zu finden, durch seinen Alltag und erleben eine Klatsche nach der Anderen. Hahaaa...nix da. Bove hat was ganz Gemeines auf Lager.
Victor ist eine äußerst komplexe, schwer zugängliche und ambivalente Persönlichkeit.
Er sucht seinen Platz in der Welt – keine Frage. Auf eine destruktive Weise, die ihres gleichen sucht.
Als er erfährt, dass sein möglicher neue Kumpel eine Mätresse hat, ist er völlig durch den Wind:
„und er wurde geliebt, während ich allein lebte, ich, der ich jünger und schöner war.
Nie würden wir miteinander zurechtkommen. Er war glücklich. Die Folge: ich interessierte ihn nicht. Das einzig Richtige: weggehen.“
Sind wir etwa missgünstig? Wo ist das Indiz dafür, dass du ihn nicht interessierst? Erwartest du etwa auch deine schlechten Eigenschaften, deine Befindlichkeiten von anderen?
Victor ist stark auf das Außen fixiert, das er wiederum an seine inneren Zustände bindet, die er umgegekehrt auf das Außen überträgt. Sein fragiles Wesen und das Unvermögen mit dem Unbekannten umzugehen, lassen ihn bei der kleinsten Unsicherheit kippen und leichtes Opfer für Manipulationen werden.
„Eine Wolke verbarg die Sonne. Die warme Straße wurde fahl. Verschwunden war der Glanz an den Fliegen.
Ich fühlte Traurigkeit.
Gerade noch war ich ins Unbekannte aufgebrochen, in der Einbildung, ein Landstreicher zu sein, frei und glücklich. Jetzt, wegen einer Wolke, war alles aus.
Ich kehrte um.“
Sobald er in Interaktion mit Menschen tritt, kommt zu diesen Eigenschaften noch obsessives Verhalten und eine ekelhafte Werte und Normenordnung hinzu, die ihn zu hypersymbolischen Interpretationen jeder noch so kleinsten Geste verleitet. Überall lauern für ihn Machtspielchen. Er fühlt sich in Frage gestellt. Seine Welt ist voller unsichtbarer Regeln, die er bestätigen und verteidigen muss.
„Als die Gläser leer waren, schenkte ich sofort nach, aus Sorge, Neveu würde mir zuvorkommen. Hätte er sich das herausgenommen, wäre ich schockiert gewesen. Es wäre ein Zeichen dafür gewesen, daß er meine Überlegenheit nicht anerkannte. War es nicht schon genug, daß er mich duzte?“
Irgendwann wird klar, so einsam er ist, so gern sabotiert er sich selbst.
Bove bearbeitet meines Erachtens einen Konflikt der Authentizität. Victor scheitert an seiner Aufrichtigkeit und schildert uns dennoch als Icherzähler in schonungsloser Ehrlichkeit seine Schwächen. Victor ist ein Möbiusband. Er zeigt uns seine zwei Seiten, die eins sind und dennoch in einer ständigen unauflösbaren Paradoxie zueinander vorliegen.
Und diese Spannung, diese unerträglichen Seiten Victors, lässt er den Leser im Nacken gepackt, reduziert, verknappt und dicht miterleben.
Hier flieht einer vor der Freiheit durch Scheinaktivität.
„Wenn ich von zu Hause weggehe, rechne ich immer mit einem Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern wird. Ich erwarte es bis zum Moment meiner Rückkehr. Das ist der Grund, daß ich nie im Zimmer bleibe. Leider ist dieses Ereignis nie eingetreten.“
Ich hätte dem Buch zu gerne 5 Sterne gegeben. Absolut faszinierendes Buch. Allerdings bekommt es durch den episodischen Charakter eine gewisse Monotonie. Einige Episoden wirken etwas zu schematisch. Außerdem sind sie nicht sonderlich kohärent miteinander verbunden. Am Ende des Tages bekomme ich leider ein dezentes Geschmäckle von Lehrstück. Das ist allerdings jammern auf hohem Niveau.