AnnaCarina hat Kairos von Jenny Erpenbeck besprochen
Review of 'Kairos' on 'Goodreads'
5 Sterne
„Katharina ist eines von diesen Kindern, die vom blauen Halstuch über den Unterricht in der Produktion und den Russischunterricht bis hin zum Ernteeinsatz in Werder alle Stationen durchlaufen haben, die der sozialistische Staat für sie bereithielt, um sie zu Bürgern der Zukunft zu machen. Und dennoch ist der Abstand, den sie zu diesem Staat hat, enorm. Abstand, denn Widerstand ist es nicht, nur etwas wie Desinteresse, politische Müdigkeit , die zu ihrer Jugend in einem ihm nicht ganz geheuren Missverhältnis steht. So als wüsste sie nicht einmal mehr, wonach zu suchen sich lohnte. Er dagegen war bis zum Ende des Krieges ein glühender kleiner Nazi gewesen. Bei ihm war, für einen schlechten Zweck, die Manipulation wesentlich besser gelungen. Aber warum? Und ging es immer wieder nur um Manipulation, und nicht darum, dass man wirklich etwas verstand?“
Daniela Dahn in einem Brief an Christa Wolf:
...“Interview gabst, sagtest du: «Ich trauere …
„Katharina ist eines von diesen Kindern, die vom blauen Halstuch über den Unterricht in der Produktion und den Russischunterricht bis hin zum Ernteeinsatz in Werder alle Stationen durchlaufen haben, die der sozialistische Staat für sie bereithielt, um sie zu Bürgern der Zukunft zu machen. Und dennoch ist der Abstand, den sie zu diesem Staat hat, enorm. Abstand, denn Widerstand ist es nicht, nur etwas wie Desinteresse, politische Müdigkeit , die zu ihrer Jugend in einem ihm nicht ganz geheuren Missverhältnis steht. So als wüsste sie nicht einmal mehr, wonach zu suchen sich lohnte. Er dagegen war bis zum Ende des Krieges ein glühender kleiner Nazi gewesen. Bei ihm war, für einen schlechten Zweck, die Manipulation wesentlich besser gelungen. Aber warum? Und ging es immer wieder nur um Manipulation, und nicht darum, dass man wirklich etwas verstand?“
Daniela Dahn in einem Brief an Christa Wolf:
...“Interview gabst, sagtest du: «Ich trauere dem Alten überhaupt nicht nach, aber den Widerstandskulturen, die es sehr selten in Deutschland gab. Diesem Weg zu einem kritischen Bewusstsein.» Zukunft werde nun nicht mehr in die Gegenwart geschoben, sondern wieder zurückgedrängt. Diese Zeitverzögerung machte dir Angst. Was jetzt zu tun sei, müsse aus der Praxis kommen– du seist auf der Suche, dafür neue Hoffnungsträger zu finden, gerade auch unter jungen Leuten.“
„Auch du beschworst uns, uns in öffentliche Angelegenheiten zu mischen, sich nicht zurückzuziehen in ein sehr enges, kleines Glück, das immer bedroht ist. Glück sei die Möglichkeit, schöpferisch tätig zu sein. Wir sagen nicht zu euch: Heuchelt! Bescheidet euch! Wir sagen: Seid unzufrieden. Verändert, was euch nicht gefällt. Es gibt überhaupt nichts, was euch nichts angeht, nichts, worüber ihr euch nicht ein Urteil bilden müsstet, nichts, was nicht von euch abhinge.“
Zurückdrängung. Verzögerung.
Ein Intellektueller, versteckt sich hinter seinen Symbolfiguren und flüchtet sich in sein sozialistisches Ideal, seine Utopie, die sich einer konsequenten Aufarbeitung der Vergangenheit verweigert und an der Realität des Überwachungsstaates, persönliche Beziehungen und sich selbst, beherrscht von Misstrauen und Verrat, zerbricht.
Das Nichts. Die Leere. Totes Sein. Das Werden verschoben auf wann?
Hoffnungslos. Zukunftslos.
In der Unbestimmtheit weilend.
Katharina:
„Ein Geschöpf der neuen Zeit. Ungebrochen ist sie, heil, behütet. Irgendwie sauber. Wäre sie anders, würde er sie auch nicht so begehren.“
Das ändert Katharina. Beschmutz sich. Muss büßen. Opfern. Wird lebendig begraben. Das Alte zehrt schleichend das Junge, Neue auf. Trägheit. Sichten der Trümmer, gründlich, unerbittlich, wahnhaft, zersetzend.
„Das Scheitern. Die Schönheit, das Scheitern einzugestehen. Wohlgemerkt, das Scheitern an den eigenen Maßstäben. Schnell nehmen sie einen Schluck, bevor der Gedanke ins Privatleben abstürzt...Das Gelingen und das Scheitern also immer nur durch eine dünne Linie getrennt. Das eine die Luftgestalt des anderen, denkt Katharina, sagt es aber nicht. Das Bewusstsein vom möglichen Kippen im Grunde die einzige Wahrheit“
Wo ist der Widerstand? Hoffungsträger in ästhetischem Theoretisieren dem Apoll geopfert. Die Produktion ist zum Erliegen gekommen.
„...zwei Exemplare der Arbeiterklasse schlagen mit Hämmern eine Eisenstange krumm, fürs Gartentor. Bierbäuche, gerippte Unterhemden, kurze Hosen, behaarte Beine, Schweiß glänzt unter den Achseln und auf dem Nacken, der Trabant, der durch das Gartentor ein- und ausfahren soll, parkt auf dem kurzgeschnittenen Rasen. All das nimmt Hans im Vorbeifahren wahr und will’s nicht, will sich retten in den Gedanken an die Anmut der Athene, 15Uhr vor dem Pergamonaltar, mit Katharina im Herbst vor zwei Jahren, damals noch im Glück, ein Schlag mit dem Hammer, und noch einer, und ein dritter, die Arbeiterklasse drischt ein auf seine Erinnerung, Mozart? Und noch ein Schlag mit dem Hammer, und noch einer. Schweißgeruch im Vorbeifahren, Spießerglück, die Niederungen des Erdenlebens, und er kann da nicht mehr raus nicht mehr weg, kann sich nicht mehr in die wolkigen Höhen erheben, in denen er bisher zu Haus war, abgefackelt hat die Lügnerin ihm seinen Mozart, seinen Hölderlin, seinen Eisler, nicht einmal Brecht hilft ihm jetzt mehr gegen den Schweiß der Arbeiterklasse. Aber wenn Hans ins Wäldchen kommt, zeigt Katharina ihm, dass sie den dunkelblauen, weißgepunkteten Rock aus Tüll anhat, und nichts drunter.“
Hans sucht im Erhabenen seinen Fluchtpunkt. Wirft den Schleier des apollinischen,der schönen Erscheinung und Verklärung über seine materielle Einbettung und die Notwendigkeit seiner eigenen produktiven Mitarbeit. Zirkelt in intellektuellen Reflexionen, im vollen Bewusstsein dessen: hier passt etwas nicht zusammen, um sein Ideal. Eine Geisterbeschwörung. Keine Antwort (nur die vom Coca Cola Mann :P).
Vom Unglück bewohnt. Man bietet sich willig als Wohnstätte an. Ein Ich? Verbraucht.
„Alles nur noch eine Kulisse aus Pappmaché, und nichts dahinter. Immer nur nichts dahinter und nichts und wieder nichts. Und dennoch kostet es so viel Kraft, das aufrechtzuhalten“
Es gibt keinen festen Ankerpunkt oder ein Ziel, das Gefühl der Entwurzelung und des ständigen Wandels wird verstärkt.
Mitgerissen vom Strom der Zeit, Tatenlos, das Werden findet ohne einen statt.
Was Wird?
Märkte ohne Waffen. Ein Kapitalismus ohne einheimische Kapitalisten. Enteignung der Lebensbilanz.
Ich bin überfordert und überwältigt. Anspruchsvolle, anstrengende, grandiose literarische Kunst im High-End Format. Assoziativ, dicht, schwer, trostlos, grau, zersetzend.